Toxische Beziehung weiß
Blog über Narzissmus in Beziehungen und Gesellschaft

Naturvölker und Psychotherapie

Es gibt vieles, was wir von indigenen Völkern lernen können. Werte und Haltungen, wie Bescheidenheit, Nachhaltigkeit, soziales Miteinander , Gleichberechtigung und Respekt vor der Natur und dem Leben sind bei manchen Naturvölkern Basis des sozialen Lebens. Erich Fromm beschreibt in seinem Werk „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ unter anderem die „lebensbejahenden  Gesellschaften“, Völker die nicht destruktiv und nicht aggressiv sind. Bei diesen Völkern, die egalitäre Gesellschaften ohne hierarchische Unterschiede zwischen Mann und Frau sind, gibt es keine toxischen Beziehungen und keine Traumata durch toxische Beziehungen oder narzisstischen Missbrauch.

 Im Bereich der Psychotherapie haben viele Naturvölker vor Urzeiten Methoden und Verfahren entwickelt, die von der Psychologie und Psychotherapie seit einiger Zeit wieder entdeckt werden.

Denn auch indigene Völker und Menschen sind traumatischen Erlebnissen ausgesetzt und benutzen  Methoden, um die Auswirkungen traumatisierender Erlebnisse zu integrieren und zu heilen. Im Gegensatz dazu begann die Psychotherapie hier erst vor kurzem, in der Zeit von Siegmund Freud, der die Psychoanalyse als eigenständige Wissenschaft etablieren konnte.

Und so möchte ich hier an ein paar wenigen Beispielen erläutern, wie die moderne Psychotherapie von indigenen Kulturen bereichert wird und ursprünglich indigene Techniken einsetzt, um psychische Traumata zu heilen.

Tänze der san
Heilungstanz der !San, Foto Judith Wilhelm

Bilaterale Stimulation durch Heilungstänze und EMDR.

Eine der archaischsten Methoden zur Heilung sowohl körperlicher Krankheiten, als auch der Veränderung und Heilung psychischer Zustände sind Heilungstänze. Heilungstänze werden von verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt ausgeführt, beispielhaft erwähnen möchte ich kurz die Heilungstänze der !San im südlichen Afrika.

Das Wirkprinzip aller Heilungstänze ist die sogenannte bilaterale Stimulation. Das bedeutet, dass die Gehirnhälften abwechselnd stimuliert werden, um einen Trancezustand zu induzieren, in dem Veränderungen stattfinden können. Im Fall von Heilungstänzen sind das abwechselnde rhythmische Auftreten und Stampfen mit den Beinen und die Trommeln das bilaterale Wirkprinzip.

Bei allen !San ist das zentrale Heilritual der Trancetanz. Diese Tänze dauern oft die ganze Nacht und werden zu verschiedenen Anlässen getanzt.

Auf der Homepage des Klingenberger Institutes für klinische Hypnose  findet sich der sehr informative Beitrag „Trancetänze bei den !Kung (Buschmännern) der Kalahari. Die !Kung sind die nordwestliche Gruppe der !San und behandeln auch psychische Krankheiten durch Heilungstänze.

Zitat:“ Bei den Heilungstänzen der !Kung werden nicht nur Kranke behandelt (z.B. mit einem Emphysem oder mit Depression; Katz, 1978) sondern auch Prophylaxe betrieben, um Gesunde vor künftigen Erkrankungsgefahren zu schützen. Heilungstänze können aber auch ausgeführt werden, um psychische Belastungen der Gruppe zu verarbeiten, z.B. nach einer missglückten Jagd oder um nach einer Scheidung des Paares die Mitglieder der Gruppe wieder zu vereinen und die Gruppenkohäsion zu optimieren.“

Ich bin mir sicher, wenn man die Heilungstänze verschiedener Völker vergleicht, dann findet immer auch die Heilung psychischer Krankheiten und die Ausbalancierung des psychischen Zustandes der Gemeinschaft als Inhalt. Das wäre mal ein interessantes Thema für eine umfassendere Studie.

Ein weiteres Beispiel für bipolare Stimulation sind Techniken wie EMDR und EMI. EMDR, „Eye Movement Desentization and Reprocessing“, auf Deutsch „ Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen“. EMDR wird hauptsächlich in der Traumatherapie eingesetzt und ist eine hochwirksame Methode zur Verarbeitung und Integration traumatischer Erlebnisse. Da es ausreichend wissenschaftlich erforscht wurde und die Wirksamkeit belegt ist, wurde es 2006 vom wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie als wissenschaftlich begründete Psychotherapiemethode anerkannt und wird von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt.

Beim EMDR findet ebenfalls eine bilaterale Stimulation statt, sowohl durch Augenbewegungen als auch durch taktile Stimulation. Einer weitverbreiteten Erklärung nach findet durch Stimulation der beiden Gehirnhälften eine Integration des traumatischen Erlebens statt. Ebenso wird das Prinzip der geteilten Aufmerksamkeit, d.h. Fokussierung auf einen optischen Fokus und gleichzeitig auf das traumatische Erleben als Wirkprinzip angenommen.

Auch sibirische traditionelle Heiler nutzen das. Der Heiler bewegt eine Kerze oder anderes Licht vor den Augen der traumatisierten Person und heilt das Trauma. (Info von P.U.Hesse, AiT).

Vielen Dank an Judith Wilhelm von der Wildnisschule Wildeshausen für die Fotos

 

San beim Tanz
Foto: Judith Wilhelm

Bilaterale Stimulation und EMDR zur Heilung narzisstischen Missbrauchs

Um die Traumata einer toxischen Beziehung und narzisstischen Missbrauchs zu behandeln eignet sich EMDR sehr gut, wenn dem Therapeuten die traumatisierende Wirkung der bei toxischen Beziehungen und narzisstischem Missbrauch angewendeten Manipulationstechniken wie Silent Treatment, Stonewalling, Schuldumkehr und Gaslighting bewusst ist. Das ist leider eher selten der Fall. Sehr wenige Therapeuten sind sich der traumatisierenden Wirkung passiver Gewalt bewusst. Als moderne Entsprechung der Trommeln in den Heilungstänzen könnte man die EMDR Musik/binaurale Beats sehen.

Che Wong Siedlung in Pahang
Senoi Siedlung, Foto Arne salisch

Die Senoivölker und das Psychodrama

Psychodrama wurde von dem österreichische Arzt Jacob Levy Moreno (1890-1974) entwickelt und stellte anfangs einen Gegenentwurf zur Freudschen Psychoanalyse dar. Als „Therapie in der Gruppe, durch die Gruppe und für die Gruppe“ wurde das Psychodrama aus Stegreiftheater entwickelt. Das Thema wird vom Protagonisten und verschiedenen sogenannten Hilf-Ichs aufgeführt. Moreno beschreibt es so, dass der Protagonist auf der psychodramatischen Bühne sein therapeutisches Thema als Hauptdarsteller aufführt.

Die zu den Senoivölkern auf der malaysischen Halbinsel gehörenden Temiar haben ein Ritual entwickelt, das viele Elemente des Psychodrama aufweist. Im Sewang, so heißt das Ritual, werden beispielsweise auch Bedrohungen, die die Gemeinschaft betreffen, in Form einer theaterähnlichen Aufführung mit Sprache, Gesang und Musik dargestellt und verarbeitet. Diese Bedrohungen können beispielsweise Überschwemmungen, Tigerangriffe, Unfälle oder auch Überfälle von Holzfällern und die Abholzung des Regenwaldes sein.

Die britische Anthropologin und Dramatherapeutin Sue Jennings lebte mit ihren drei Kindern zwei Jahre bei den Temiar und hat ihre Beobachtungen in dem Buch „Theatre, Ritual and Transformation-The Senoi Temiar“ beschrieben und die Erkenntnisse aus der Arbeit mit den Temiar in ihre therapeutische Arbeit einfließen lassen und das NDP (Neurodramatic Play) entwickelt.

 Ihr Sohn Andy Hickson, PhD, setzt sich weiterhin für die Temiar ein, wir trafen uns 2019 in Kuala Lumpur, als ich für das Kartierungsprojekt von RdN e.V. in Malaysia war.

RdN.e.V finanziert dort seit 2014 den indigenen Bewohnern der Halbinsel Malakka die Erstellung Grundbesitzkarten aufgrund von Besiedlungsnachweisen, die von den einzelnen Communities bei Landrechtsprozessen als Beweis  für die Besitzansprüche auf ihr Land genutzt werden. Andy ist Anthropologe, Menschenrechtler, Pädagoge, Filmemacher, Theaterregisseur (social theatre). In seiner Theaterarbeit fokussiert er sich auf Mobbing, Cybermobbing und Gewalt in Schulen und lässt seine Erkenntnisse aus der Zeit bei den Temiar kreativ in seine Theaterarbeit einfließen.  „Neurodramatic Play in the Jungle“ (2017) ist ein Film von ihm mit seiner Mutter, der über das erste NDP Training in einem Dorf der Temiar in Kelantan, Malaysia, berichtet. Dieser Film ist auf Youtube zu finden.

 Bei einem anderen Senoivolk, den Che Wong, habe ich mal an einem Ritual teilgenommen, bei dem durch einen Schamanen und die anwesende Gemeinschaft eine nach westlichen Kriterien Frau mit psychotischen Symptomen im Mittelpunkt stand. Auch hier wurde die Gemeinschaft durch Gesänge, Musik, gemeinsamen Verzehr von Speisen und Interaktion mit der erkrankten Frau einbezogen.

Ein Grab der Senoi im Regenwald
Grab der Jahut, eines Volkes der Senoi, im Regenwald von Pahang. Foto: Arne Salisch

Dadirri: Mitfühlendes Zuhören und stilles Warten bei den Aborigines Australiens

Dadirri ist eine Praxis aus der Tradition der australischen Ureinwohner, die an buddhistische Praktiken oder die gerade wieder modern gewordene Achtsamkeit nach Jon Kabat Zinn erinnert. Dadirri ist keine Praxis. Es ist die Spiritualität, die Lebenshaltung der ursprünglichen Bewohner Australiens.

NGANGIKURUNGKURR heißt „ die Klänge des tiefen Wassers“ und ist auch der Name des Volkes von Miriam Rose Ungunmerr Baumann, einer indigenen Künstlerin, einer Ältesten und Bewahrerin der Dadirri Tradition. Sie sagt, dass es der normale Weg des Lernens für die Aborigines ist, einfach zuzuhören. Zu hören und still warten. Nicht fragen. Und so hören die Ureinwohner Australiens seit 40000 Jahren einfach nur zu. Sie hören auf die Erde, die Elemente, den Himmel, die Pflanzen und die Tiere. Und hören was diese uns sagen. Und so wird die Praxis des Dadirri auch auf kranke Menschen angewendet. Auch auf traumatisierte Menschen. Einfach nur tief hören. Was sagt uns der Mensch, was sagt sein Körper, was sagt sein Geist, was sagen seine Gefühle. Solange respektvoll und mitfühlend zuhören, still warten, bis Heilung eintritt. Stundenlang, tagelang. Bis Heilung erfolgt.

Empathie und Mitgefühl sind entscheidend für den Erfolg jeder therapeutischen Tätigkeit. Der Patient muss sich vom Therapeuten wahrgenommen und verstanden fühlen, damit Heilung stattfinden kann. Somit ist Dadirri keine Technik im herkömmlichen Sinn, sondern eines der Wirkprinzipien seelischer Heilung.

TRIMB- Behutsame Trauma-Integration

Trauma Recapitulation through Imagination, Motion and Breath- TRIMB ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das seine Wurzeln in der Kultur der Yaqui in New Mexico hat. Grundlage von TRIMB ist die schamanische Vorstellung von energetischen Verbindungen zwischen uns und anderen Menschen und Situationen. Diese Verbindungen werden erst realisiert und dann durchtrennt. So wird die Bindung zu traumatischen Geschehnissen und Tätern getrennt. Die Seele verliert keine Energie mehr. Diese steht dann für die Heilung zur Verfügung. Ingrid Olbricht, die langjährige Chefärztin der Wicker Klinik in Bad Wildungen, adaptierte diese Technik für die Traumatherapie. Seit dem Tod von Ingrid Olbricht 2004 wird TRIMB von der Ärztin und Traumtherapeutin Ellen Spangenberg gelehrt.

TRIMB ist eine sehr schonende und effektive Methode zur Behandlung psychischer Traumata. Es findet keine Konfrontation statt und durch Techniken der doppelten Distanzierung ist die Möglichkeit einer Retraumatisierung während der Behandlung nahezu ausgeschlossen.

Im Kontext von toxischen Beziehungen und körperlichem und psychischem Missbrauch durch Narzissten ist TRIMB sehr gut anwendbar, um die Abhängigkeit zum missbräuchlichen (Ex) Partner oder anderweitig schädlichen Menschen aufzulösen. Die Traumata einer toxischen Beziehung lassen sich mit TRIMB sanft und ohne direkte Konfrontierung behandeln.

Psycholyse

Seit langem werden in fast allen Kulturkreisen psychoaktive Substanzen von traditionellen Völkern eingesetzt, um Heilung von seelischen und körperlichen Leiden zu erlangen.

Populär ist gerade Ayahuasca, eine Droge aus dem Amazonasgebiet, die dort seit langer Zeit zu Heilungszwecken eingesetzt wird. Die Droge besteht aus 2 Komponenten, eine Pflanze enthält DMT, die andere einen MAO Hemmer, der bewirkt, dass das psychoaktive DMT die Blut-Hirn Schranke durchdringt. Ungefähr 70 amazonische Völker nutzen die im kolumbianischen Amazonasgebiet auch Yage genannte Droge. Seit einigen Jahren gibt es in Europa und den USA geradezu einen Hype um Ayahuasca mit all seinen negativen Folgen wie Kommerzialisierung und Ausbeutung. Hier passt der Begriff kulturelle Aneignung ganz gut. Traditionelles Wissen indigener Völker wird profanisiert und kommerzialisiert. In der Gegend von Iquitos gibt es dutzende von Lodges, die mit Heilung aller möglichen Beschwerden durch Ayahuasca und andere Mittel wie Kambo werben. Ein Aufenthalt kostet häufig mehr als 1000 USD pro Woche. Während die angestellten Schamanen in diesen Lodges nur eine Handvoll Dollar bekommen, verdienen die meist US-amerikanischen Betreiber richtig viel Geld. Die von Indigenen betriebenen Lodges sind eher selten.

In der Psychiatrie wurde immer wieder versucht, mit psychoaktiven Substanzen zu heilen. Sei es nun MDMA, das zur Paartherapie eingesetzt wurde und neuerdings in Australien für die Behandlung von Depressionen genutzt wird, oder die LSD Experimente von Timothy Leary Ende der 60iger Jahre des 20.Jh. Nun entdeckt die Psychotherapie eben die Drogen der indigenen Völker wieder, wie Ayahuasca, Psilocybin oder Meskalin. Ayahuasca wird benutzt um verschiedene psychische Störungsbilder zu behandeln, wie PTBS und Depressionen, auch Psylocibin wird gegen Depressionen eingesetzt.

 Interessant, aber sehr umstritten ist auch das Ibogain, der Wirkstoff der Pflanze Tabernanthe Iboga, das bei der Behandlung von Sucht alternativmedizinisch eingesetzt wird.

Es ist durchaus denkbar, die Traumata einer toxischen Beziehung und des Missbrauchs durch Narzissten durch Psycholyse zu heilen. Aber es ist in Deutschland meist illegal, solche Mittel zu gebrauchen, da die meisten unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Deswegen suchen viele Menschen in den Niederlanden, in Peru oder Kolumbien Hilfe. Wer Glück hat, gerät in Südamerika sogar an einen Schamanen, der wirklich was von Ayahuasca versteht. Die traditionelle Lehrzeit beträgt 16 Jahre. In Deutschland gibt es immer wieder illegale Zirkel, die Ayahuasca ohne geeignete therapeutische Begleitung oder schamanischen Schutz konsumieren. Von der Teilnahme an solchen Sessions ist abzuraten.

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Arne Salisch, Sandra Neurohr & Svenja Breitenbach

systemischer Coach und psychologische Beraterin

Heilpraktiker für Psychotherapie

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